Geschichten, die mitwachsen
Das Leben eines Menschen ist ein Gewebe erzählter Geschichten. Paul Ricoeur
Neben selbst Erlebtem prägen auch Erzählungen wie die der Bibel unsere Sicht von der Welt und von uns selbst. Dabei ist es nicht egal, wann wir sie hören. Biblische Geschichten können die Menschen durch ihr Leben begleiten und wichtige Impulse setzen. Manchmal können sie auch gezielt eingesetzt werden, um einen nächsten Schritt in ihrer Weiterentwicklung einzuleiten. Biblische Gestalten bieten Identifikationsfiguren. Biblische Geschichten machen Mut, stärken das Grundvertrauen und tragen durch Wachstumskrisen hindurch.
Kinder denken nicht anders, sie wissen nur weniger. Deshalb ist ihr Denken oft noch ungeordnet und von fantastisch wirkenden Vorstellungen geprägt, die aber innerhalb des begrenzten Weltbildes des Kindes eine innere Logik ergeben. Dieses Weltbild wird später aufgegeben, wenn es gleichsam zu Ende gedacht ist. Und mit ihm die Geschichten, die diese Zeit geprägt haben.
Doch gerade das Symbolangebot biblischer Geschichten kann den Kindern helfen, ihre religiösen Bildgestalten nach und nach in realistischere Vorstellungen zu überführen. Damit dies gelingen kann, müssen die Geschichten mit den Kindern mitwachsen.
Die Bibel wächst mit dem Leser. Papst Leo I.
Erziehende sollten sich bemühen, den biblischen Text aus seinem ursprünglichen Zusammenhang heraus zu verstehen. Dann aber sollten sie diese Texte zu ihren eigenen Texten machen, um sie schließlich in die Lebenswelt der Kinder zu übersetzen. Denn nur so beginnt die Bibel zu leben.
Die jüdisch-christliche Bibel ist weder ein Gesetz- noch ein Lehrbuch. Sie versteht sich als Sammlung von Erfahrungen, die, oft im Gewand von Geschichten, dem Hörer mitgeteilt und mit ihm geteilt werden wollen. Diese Texte suchen nach einer Begegnung. Und mit jeder Begegnung gewinnt die Bibel an Gehalt.
Dieser Kontakt mit den eigenen Erfahrungen muss ohne Tabus geschehen dürfen. Auch Kritik, ja Ablehnung gehören zu einer echten Begegnung. Der Midrasch, die traditionelle jüdische Auslegung der biblischen Texte, sucht bewusst den Widerspruch. So verschließt sich das Denken nicht in Gewissheit und hält sich für die Unbegreiflichkeit Gottes offen. Und Gott kann in unser Leben einbrechen und es verändern.
Alles hat seine Zeit. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit. Koh 3,2
Es ist kein Zufall, dass dieser Satz der Weisheitsliteratur des Alten Testaments entstammt. So ist es die Weisheit des spirituellen Lehrers, den richtigen Zeitpunkt, den Kairos zu spüren, in dem eine Wahrheit Gehör findet und zündet. Im Kairos wirkt Gott in das Leben des Menschen hinein, es ist der Augenblick der Vorsehung, den es achtsam wahrzunehmen und zu ergreifen gilt.
Auch die Entwicklungspsychologie kennt solche Zeitfenster, in denen ein Kind bereit ist, Dinge zu lernen, Fortschritte in seiner Entwicklung zu machen. Eine Theologie der Lebensalter achtet auf diese Zeitfenster und ist sensibel für den richtigen Augenblick.