Treue

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„Wo du bist, will auch ich sein“, sagt ein Liebender, wenn er seiner Geliebten eine Sonnenblume schenkt. So steht es in einem Buch über die Blumensprache aus dem 19. Jahrhundert. Der Sonne ergeben ist die Sonnenblume, wenn sie sich an ihrem Lauf von morgens bis abends ausrichtet.

Da frag ich mich, ob wir heute noch wissen, wer unsere Sonne ist. Wenn wir die Konkurrenz überhaupt noch dulden. Mir scheint manchmal, eine fehlgeleitete Pädagogik hat uns lange genug eingeredet, dass wir selber die Sonne sind. So dass wir es kaum noch ertragen, dass etwas anderes uns überstrahlt. Wer die wirkliche Sonne einmal in seinem Leben entdeckt hat, dem wird diese Verwechslung freilich nicht mehr passieren.

Schau ich mir den Lebenslauf so einer Sonnenblume an, dann erkenne ich den Ertrag eines treuen Lebens. Jugendlich strahlt sie mit ihrem Idol um die Wette, man merkt ihr die Freude an an einem Leben, das Glück bedeutet, weil es den richtigen Orientierungspunkt gewählt hat. Im Alter aber, da füllt sich der Fruchtkorb überreich mit Kernen.

Die alte Sonnenblume beugt sich langsam unter der Last ihrer Frucht. So wie ein Leben, das wirklich gelebt wurde für die Anderen, dem Liebenden ins Gesicht geschrieben steht. Die Sorgen haben sich hineingezeichnet, aber auch das dankbare Lächeln der Umsorgten, das dem von der Last des Lebens Gebeugten den Blick nach oben erspart. Weil er die Sonne seines Lebens jetzt in sich trägt.

Man lässt sie im Garten stehen, die alte vertrocknete braune Gestalt. Aus Respekt. Weil man den Ertrag dieses treuen Lebens auskosten will. Und weil ein Leben, das Frucht bringt, in seiner Weise schön ist.

Weisheit ist eine Tugend des Alters, und sie kommt wohl nur zu denen,
die in ihrer Jugend weder weise waren noch besonnen.

Hannah Arendt