Maß

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August 1990 bei Bad Kösen in Thüringen: Weizenfelder ziehen über die Hügel und Mulden hinweg. Ohne Rücksicht auf die Topographie, ohne Platz zu lassen für Bäume, Hecken, Wegränder. DDR halt, industrielle Landwirtschaft der LPGs ohne bäuerliche Basis. Massenproduktion ohne Auftrag zur Landschaftspflege.
Nur für die Augen hungernder Menschen muss dieser Anblick paradiesisch wirken. Im Schlaraffenland der Satten herrschen andere Bedingungen: Da wird der Boden gepflegt mit Fruchtwechsel und Brache. Da ist Platz für scheinbar Nutzloses, das Biodiversität garantiert und den Reichtum der Zukunft begründet. Und da wird nicht nur mein Bauch gefüttert, sondern werden auch meine Sinne angesprochen und mein Geist bedient.
Der Sundgau im Elsass, 25 Jahre später: ein Déjà-vu. Maisfelder ohne Ende in einer kleinräumigen Landschaft. Wenige mit kleinen Wäldern bestandene Hügelkuppen, die sich der technischen Bearbeitung wohl verweigern. Im Maismeer nicht mehr sichtbar: die berühmten Karpfenweiher der Gegend. Heute treibt der Hunger der Geräte nach Energie zur Maßlosigkeit an. Wir haben nichts dazugelernt.
Wer das maßlose Leid des Hungers erlebt hat und mit der Angst vor Wiederholung lebt, der wird sich schwer tun, das rechte Maß zu finden. Unsere Kriegsgeneration hat das erlebt und das moderne Wirtschaften begründet. Die Nachgeborenen aber sind mit einem Leben in Wohlstand und Sicherheit gesegnet, denen sage ich: Schaut euch das Getreide an, wie es sich im vollen Korn im Wind bewegt. Was für ein herrlicher Anblick der Fruchtbarkeit. Es verdient euren Respekt – in Anbau wie Konsum.
Es wurde euch geschenkt, dass ihr es hegt und pflegt. Es ist euch gegeben, dass ihr eure Nachkommen vor Hunger bewahrt und vor der Angst. Nachhaltig. Was die älteren Generationen in Gang gebracht haben, müssen die nachfolgenden Generationen beherrschen und zügeln. Sie lernen gerade zu sagen: Es ist genug.
Gut, dass wir uns nicht mehr von wilden Gräsern und Einkorn ernähren müssen. Aber auch der stärkste Halm hat sein Maß, soll er nicht brechen.
Jede Tugend beruht auf dem Maße.
Seneca